Übersetzen als Handwerk

Die Kunst überlasse ich lieber dem Autor…

„Wörter haben ihre Schicksale wie Menschen und Bücher; und das Auf und Nieder einer Wendung ist oft kaum weniger anrührend als das eines Menschen.“  Brander Matthews

Schlimm genug also, dass sie in einer Übersetzung ganz anderen Wörtern und Wendungen weichen müssen, nämlich denen einer anderen Sprache.

Und um diese pathetic fallacy weiterzuspinnen: Das Mindeste, was so einem Wort gebührt ist, sich in der anderen Sprache durch ein tatsächlich entsprechendes Wort, eine tatsächlich entsprechende Wendung vertreten zu sehen. Oder um das umzukehren, Wörter haben es eben nicht verdient, beim Übersetzen – oder dem, was so ein Worthändler  dafür halten mag – durch ein anderes, praktisch beliebiges Wort ersetzt, ohne nähere Betrachtung ihres Sinns also, will sagen der Funktion, die sie in einem Kontext erfüllen sollen, in eine andere Sprache gezerrt zu werden.

Und hier kommt die handwerkliche Seite des Übersetzens ins Spiel. Dem Übersetzer werden diese Wörter und Wendungen zum Rohmaterial dafür, die »Übersetzung als Illusion« aufrecht zu erhalten, wie die britische Kollegin Anthea Bell das genannt hat, die Illusion des Lesers nämlich, das Original in der Hand zu halten. Diese Illusion lässt sich, für mich jedenfalls, nur dadurch wahren, indem man das vom Original vermittelte »Leseerlebnis« so getreu als möglich nachzustellen versucht.
Die Illusion ist in dem Augenblick in Scherben, in dem ich auf einen Satz wie diesen stoße:

Da auf sein Klopfen keine Antwort kommt, entfernt sich Byron von der Veranda, geht um das Haus herum und tritt in den kleinen, abgeschlossenen Hinterhof.
(Faulkner, Licht im August)

Ich muss hier über ein Wort nachdenken, von dem ich mir – ohne einen Blick ins Original zu werfen – sicher sein kann, dass Faulkner seinen Leser hier nicht stutzen sehen will. Ich denke aber sofort: Warum »entfernt« man sich von einer Veranda, um hinters Haus zu gehen? »Sich entfernen« suggeriert eben genau das, nämlich »Entfernung«? In welchem Abstand geht der Betreffende denn um dieses Haus? Und müsste nicht erklärt werden, warum er einen solchen Bogen um das Haus macht. Man könnte sich eventuell von der Veranda entfernen, um am Haus nach oben zu sehen. Aber wie »entfernt« man sich überhaupt von einer Veranda, wenn man sich eben noch darauf befindet? Wie sonst hätte man klopfen sollen?

Das sind spontane Fragen, die mich um das Leseerlebnis bringen. Ich schlage also im Original nach, das im Regal gleich neben der Übersetzung steht, und finde:

When his knock gets no response, Byron leaves the porch and goes around the house and enters the small, enclosed back yard.
(Faulker, Light in August)

Nichts an diesem nüchternen Satz soll einen stutzen lassen. »He leaves the porch.« Er »verlässt« die Veranda zunächst einmal. Ein Entfernen im Sinne von »Distanz zwischen sich und ein Objekt bringen« ist hier nicht suggeriert. Man müsste nun die Beschreibung des Hauses andernorts im Roman zur Hand nehmen, aber Tatsache ist ja wohl, dass eine Veranda sich durch einen gewissen Höhenunterschied auszeichnet und »leave« nichts anderes bedeutet, als dass jemand diesen Höhenunterschied überwindet, indem er einen Schritt nach unten tut oder mehrere, falls irgendwo von einer Treppe die Rede ist. Diesen Sinngehalt gilt es zu übersetzen. Und hier kann man wie immer mehrere Wege gehen.
Haarspalterei? Mitnichten. Die würde ich erst sehen, würde ich eine sinngehaltlich korrekte Übersetzung diskutieren.
Aber von mir aus, dann eben ein deutlicheres Beispiel:

Jawohl. Die Anklagejury tritt heute zusammen. Sondersitzung. Der Mörder soll überführt werden.
(Faulkner, Licht im August)

Anklagejurys sind nicht dazu da, Menschen des Mordes zu »überführen«. »Überführen«, das bedeutet, »jemandem eine Schuld an etwas nachweisen«, und ist Sache der Polizei. Das ist ein Sachverhalt, der mit Übersetzen zunächst gar nichts zu tun hat. Eine Anklagejury hat darüber zu befinden, ob die von der Polizei zusammengetragenen Beweise ausreichen, dem Betreffenden – er ist noch nicht angeklagt! – den Prozess zu machen. Ob diese Beweise für die Erhebung einer Anklage ausreichen. Falls jemandem, wie mir jetzt, der entlastende Gedanke kommt, es könnte hier gemeint sein, den Mann »ans Gericht zu überführen«, also zu überstellen… Eine Ungenauigkeit wie das »Entfernen« von der Veranda? Aber technisch nicht falsch.
Werfen wir einen Blick ins Original. Da heißt es:

Yes, sir. Grand Jury meets today. Special call. To indict that murderer.
(Faulkner, Light in August)

Und da haben wir es: »to indict« heißt nichts anderes als »anklagen«, »unter Anklage stellen«, »Anklage gegen jemanden erheben«. Es ist, wie ich gerade sehe, interessanterweise eines der wenigen Wörter, die keine zweite Bedeutung haben, also nichts anderes als »anklagen« bedeuten.

Ich hoffe, damit wenigstens angedeutet zu haben, was ich unter »Übersetzen als Handwerk« verstehe. Eben nicht große Theorien, die dann vor der Tatsache versagen, dass ich nicht im Stande bin, an meinem Material, am Wort also, zu arbeiten, dann am Satz, diesen nach allen Regeln der Handwerkskunst zu formen. Mit dem Werkzeug, das dazu gehört, versteht sich: Wörterbücher, Lexika, Fachbücher, Datenbanken, Internet, Wortlisten, Konkordanzen, Übersetzungen etc. etc. Und eben Erfahrung. Vor allem Erfahrung. Die nie und nimmer zu ersetzen oder vorzutäuschen ist. Was nützt einem eine komplett eingerichtete Autowerkstatt, wenn man nicht weiß, was und wo eine Zündkerze ist. Anders ausgedrückt: Habe ich ein Sachbuch über einen New Yorker Mafiaprozess übersetzt, dann werde ich – sofern ich das mit meiner Einstellung, nach der Übersetzen in erster Linie ein Handwerk ist, erledigt habe – den Rest meines Lebens zwischen Polizei, Haftrichter und Anklagejury unterscheiden können. Auch bei William Faulkner.*

Falls Sie das als Verleger ebenso sehen und nicht für bloße Aufschneiderei halten†, dann versuchen Sie es doch mal mit einem Handwerker als Übersetzer. Er würde sich freuen.

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* Was mich nicht davon abhalten würde nachzusehen, wie sich das an dem Ort und zu der Zeit, in der Faulkner seine Handlung anlegt, mit der Anklage tatsächlich verhielt. Aber selbst dann hieße »to indict« noch »unter Anklage stellen«.
† Ich weiß nicht, warum ein Übersetzer im Zeitalter der Werbung nicht auf nachweisbare Erfahrung hinweisen darf, ohne als Angeber dazustehen.

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»Von Bernhard Schmid geschmeidig übersetzt, liest sich Bob Dylan und Amerika so unterhaltsam, gelehrt und elegant wie im mittlerweile zum kanonischen Werk avancierten Original.«

– FAZ, 4.3.2013


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